Skizze eines konstruktiven Sozialismus (Teil 3)

Grundlagen der Konstruktion: Das Gefüge transformatorischer Organisationen

Skizze eines konstruktiven Sozialismus (Teil 3)

Großes verändert sich nur in der Kulmination vieler kleiner Prozesse, die für die Neuordnung einer komplexen Gesellschaft zu durchlaufen sind. In diesem Sinne gibt es »keine Abkürzungen« auf dem Weg zu einer sozialeren Welt.[1] Es erfordert, sich auf das long game einzulassen und die »Mühen der Berge« auf sich zu nehmen.[3] Der dafür nötige Atem und Weitblick gehen der radikalen Linken jedoch häufig ab. Frustriert über ihre isolierte Lage, will sie schon länger mit dem Kopf durch die Gebirgswand – und findet sich dadurch immer wieder im Jammertal wieder.[2] Multiple Gewerkschaften, die an den konkreten Interessen der unteren Klassen ansetzen, wären hingegen ein Weg aus jener Isolation. Wie im zweiten Teil dieser Serie dargelegt,[4] lassen sich aus einer strategischen Interaktion mit der Realität, die auf Handlungsmacht abzielt, utopische Keimformen so nähren, dass sie auch tatsächlich Gegenmacht erlangen. Mehr Realismus kann insofern das emanzipatorische Bestreben der Utopie näherbringen als ein radikaler Utopismus. Diese Dialektik der realutopischen Sozialtechnik ist, wie wir von Camus lernen, eine Frage des richtigen Maßes. Es gilt, mit der Wirklichkeit so zu arbeiten, dass sich am realistisch Machbaren eine breite Kollektivität entfaltet – um mit dieser Kollektivität die Situation »abzutragen«,[5] an denen die »praktischen Realisierungsmöglichkeiten« der Utopie ihre Grenzen finden.[6]

Diese Grenzen sind nicht einfach gesetzt durch objektive Bedingungen, sondern, das lehrt uns wiederum Schapiro, liegen auch in der Unzulänglichkeit der Emanzipationssubjekte selbst begründet.[7] Eben deswegen ist eine Mesopolitik erforderlich, die auf Handlungsmacht abzielt. Im Versuch, diese über Alltagspraxen entlang sozialer Widersprüche herzustellen, kann nämlich auch das Bewusstsein über die eigenen Widersprüche wachsen. Und diese verlangen in Konsequenz eine realistische Anpassung der Mikropolitik (also der Gestaltung der Keimform) und damit der Makropolitik (also der utopischen Konstruktion, die durch die Keimform vorgezeichnet wird). Ein solch praktischer Materialismus fehlt der radikalen Linken weitestgehend. Sie wünscht sich zwar Handlungsmacht – und unterstreicht dies mit Bekenntnissen zur Klassenpolitik –, dieses Desiderat bleibt aber illusorisch, weil sie alles in utopischen Idealen vollzogen sehen will, die praktisch nicht mit der Realität der unteren Klassen kompatibel sind. So soll die Bewegung organisch, ja geradezu naturwüchsig reifen, völlig horizontal wie auch inklusiv funktionieren und keinen Leistungs- oder Optimierungszwängen unterliegen. Zugleich soll sie innovative Beziehungsweisen und ein höheres Bewusstsein hervorbringen, subalterne Subjekte erheben und regressive Elemente exkludieren sowie die richtigen Strategien finden, um Herrschaft effektiv zu überwinden.

Es ist eine eierlegende Wollmilchsau, als die sich die radikale Linke imaginiert: eine Schimäre aus theoretischen Parametern, die, wie zu zeigen ist, praktisch unvereinbar sind. Allenfalls ließe sich zwischen ihnen vermitteln. Doch statt das mittlere Maß zu suchen, will jene Linke alles in vollem Maße – und geht so leer aus. Denn dadurch, dass ihre Vermittlungsformen selbst widersprüchlich sind, also nicht mal zwischen ihren eigenen Parametern vermitteln, sind sie auch nach außen nicht vermittelbar. Diese Formen missachten elementare Gesetze der sozialen Interaktion und sind der Realität entrückt. Sinnbildlich dafür mag der überstrapazierte Leitspruch der ZapatistInnen sein, die Schwerkraft besiegen zu wollen.[8] Dieser mag als Negation der angeblichen Alternativlosigkeit Sinn ergeben, nicht aber als Negation allgemeiner Gesetze der Vergesellschaftung, denen sich jede inter- und transpersonale Vermittlungsform beugen muss.[9] Im realutopischen Sinne kann ein »fragendes Voranschreiten« daher nur meinen,[10] diese Mechanismen in (mesopolitischen) Versuchen der Massenorganisierung abzutasten und entsprechend eine realistische Anpassung von (mikropolitischen) Beziehungsweisen und (makropolitischen) Institutionen vorzunehmen. Im Folgenden wird nun erörtert, was eine solche Heuristik für die Mikropolitik, also das konkrete Gefüge transformatorischer Organisationen bedeutet.

Auf Sand gebaut: Die Entzauberung der unverstandenen Momente

Zwangsläufig muss so eine Reflexion von Praxiserfahrungen zu einer Kritik an der vorherrschenden Mikropolitik der radikalen Linken geraten. Denn in dieser werden die gewünschten Beziehungsweisen eben nicht daran gemessen, ob sie Handlungsmacht ermöglichen. Vielmehr gelten jene Beziehungsweisen, die als Keime der Utopie identifiziert wurden, selbst als Maßstab, an dem sich linke Praxis messen muss. Handlungsmacht ist zwar – ebenso wie Gegenmacht – wünschenswert, aber nur, wenn sie aus genau den Beziehungsweisen erwächst, die den eigenen Normen sozialer Interaktion entsprechen. Vielen gilt heute gerade das als Essenz des Radikalseins, lässt das doch ein Selbstverständnis als Garant der Utopie zu, die man nicht für machtpolitische Versuchungen zu verwässern bereit ist.[11] Als Kern der radikalen Identität, zu dem sie geworden ist, bildet die Mikropolitik in der linken Psyche den Ausgangspunkt aller praktischer Überlegungen, gilt die Implementierung durch und durch antiautoritärer Prinzipien in den eigenen Zusammenhängen doch als Vorbedingung aller weiteren Politik. Mesopolitische Zielstellungen wie erfolgreiche Massenorganisierung haben sich diesen Prinzipien unbedingt unterzuordnen. Denn als Leistungsanforderung, die diese darstellt, werden sie als Ausdruck der negierten Machtpolitik gesehen – und damit als Quelle der Verunreinigung für das radikale Projekt.

Wir werden noch darauf eingehen, wie es zu dieser kognitiven Verschiebung in der Linken kam, die ja durchaus mal erfolgsorientiert gearbeitet hatte. Hier soll es aber erstmal darum gehen, welche Probleme aus so einer radikalen Identität resultieren. Und dies betrifft zunächst die Selbstbezüglichkeit der Mikropolitik, die durch ihre Verabsolutierung keine Reflexionsinstanz mehr hat. Zwar soll sich in ihr die Utopie widerspiegeln (und andersrum), womit vermeintlich ein reflexives Moment vorliegt, doch werden Keimform und Utopie zumeist synchron gedacht. Das heißt, sie ziehen ihre Prinzipien aus ein- und derselben Quelle: der Negation sozialer Asymmetrien, wie man sie in der Realität vorfindet (z.B. Hierarchien oder Ungleichheiten) und denen man horizontale bzw. ausgleichende Vermittlungsformen als »gelebte Utopien« entgegenstellt.[12] Es ist ja gerade diese Synchronisierung, das keimförmige Handeln nach utopischen Prinzipien, die als besonders radikal, weil konsequent gilt.[13] Jedenfalls handelt es sich dabei tatsächlich um ein rekursives Denken, das um sich selbst kreist. Denn durch die Unterordnung oder gar Ablehnung von mesopolitischen Zielstellungen gibt es kein pragmatisches Moment, welches das Selbstgefallen der utopischen Prinzipien irritieren könnte. Die Mikropolitik (als absolute Spiegelung dieser Prinzipien) verkommt so zum Selbstzweck.

Gewiss, man könnte darin auch eine löbliche Haltung erkennen, eine nämlich, die Erfolg nicht um jeden Preis möchte und solcherlei Machtpolitik ablehnt, wo der Zweck die Mittel heiligt – und sich dadurch nur allzu oft korrumpiert. Dieser Impuls ist verständlich. Doch leider hat die Linke das Problem einfach invertiert, wenn sie nun die Mittel heiligspricht. Denn genau das bedeutet die Synchronisierung der Mikropolitik mit dem Zweck der Emanzipation. Es findet ein identitärer Verschluss statt, bei dem die Mittel als absolut in der Kognition gesetzt werden, womit sie von den Zielen entkoppelt werden, an denen konkrete Praktiken eigentlich zu messen sind. Durch diese Auflösung der Achse von Mittel – Ziel – Zweck sind die mikropolitischen Prinzipien,[14] die ja utopische sind, quasi konkurrenzlos, werden also nicht mehr mit realistischen Maßgaben (wie etwa Leistungsfähigkeit oder Erfolg) konfrontiert. Und eben jener Verschluss hat erhebliche Auswirkungen auf die Bearbeitung der Realität, die so keine strategische, sondern eine idealistische ist. Es ist ja gerade kennzeichnend für die Neue Linke ab 1968, die prägend für die Gegenwartslinke war, dass sie den politischen Fokus auf Subkulturen verschob, in denen das emanzipatorische Bedürfnis unmittelbar und subjektiv befriedigt werden sollte: durch (ideale) interpersonale Beziehungen, in denen autoritäre Zwänge praktisch-alltäglich negiert werden.

Es lohnt sich hier, bei Jürgen Habermas nachzuschlagen, der bereits 1969 diesen kulturrevolutionären Ansatz für seine »zwanghafte Abwehr von Kompetenzforderungen und Leistungsorientierungen« kritisierte, die der Zurückweisung von »Leistungsimperativen« bzw. der »autoritären Leistungsgesellschaft« folge.[15] Angesichts der daraus aufkeimenden politischen »Selbstbefriedigung«, bei der »Kriterien des Erfolgs zweckrationalen Handelns« nicht mehr galten,[16] sollte es nicht verwundern, dass die radikale Linke kaum mehr in die gesellschaftlichen Entwicklungen eingreifen kann. Denn wo sie sich jeglicher Rationalität verweigert, die sich auf die Zwänge der realen Machtverhältnisse einlässt, kann sie eben keine Handlungs- oder Gegenmacht entfalten. Schließlich stellt der Aufbau solcher Macht, auch wenn sie emanzipatorisch verfasst sein soll, eine Bewegung vor vielschichtige Leistungs- und Kompetenzanforderungen.[17] Es erfordert Strukturen, die anschluss-, aufnahme- und durchsetzungsfähig genug sind, um die Interessen einiger gegen den Willen mancher geltend zu machen. Und das zwingt wiederum dazu, solchem Wissen Geltung zu verleihen, das versteht, wie sich Menschen zur Organisierung bewegen lassen und wie sich deren individuellen Differenzen kollektiven Zielen unterordnen lassen – um dieses effektiv für eine möglichst selbstbestimmte Bearbeitung der Realität zu nutzen.

Wo sich die Linke diesen immanenten Zwängen verweigert, ist sie zum reflexiven, strategischen Denken nicht in der Lage. Sie übt vielmehr ein »motiviertes Denken« aus,[18] in dem die Gedankenarbeit darauf verwendet wird, selbstverständlich gemachte, also zu Ideologie geronnene Prinzipien zu rationalisieren –[19] statt die Prinzipien dahingehend zu überprüfen, wie sie sich in der Realität bewähren, und sie für die Erlangung politischer Ziele (utopieverträglich) zu relativieren. Politisch-psychologisch betrachtet, handelt es sich bei dieser Rationalität, die so tut, als fände die soziale Interaktion bereits unter utopischen Bedingungen statt, um eine »Beeinträchtigung von Aneignungsvollzügen«.[20] Denn ohne eine Beziehung zu der Welt, in der diese als Voraussetzung des eigenen Handelns angenommen wird, ist das Vermögen gestört, »sich die Welt zu Eigen zu machen« und »das eigene Leben [zu] gestalten«.[21] Man beugt sich nicht ihren Zwängen, um die Kapazitäten ihrer Transformation aufzubauen, sondern ignoriert sie – womit man sich und die Welt ihnen umso mehr ausliefert. Die Rationalisierung dieser Entfremdung findet ihren Ausdruck in einem Transformationsverständnis, das nominell zwar konstruktiv ist, weil es den Aufbau neuer Beziehungsweisen betont. Diese stehen selbst aber in keiner Beziehung zur Realität, die ja die Bedingungen für deren Aufbau vorgibt – und sind somit auf Sand gebaut.

Das Transformationsverständnis ist daher ein magisches, in dem Handlungsmacht als Mysterium daherkommt.[22] Sie soll aus der Wirkungsmacht idealistischer Prinzipien folgen, die in Erzählungen des »Schöner wär’s, wenn’s schöner wär« beschworen werden – auf dass die Welt sie sich als Normen zu Eigen mache.[23] Und wenn der Berg doch nicht zur Prophetin kommt, dann stehen die Sterne eben nicht günstig! Das ist in etwa die Semantik, die viele radikale Linke, ob nun marxistischen oder anarchistischen Selbstverständnisses, zum Ausdruck bringen: Sie neigen dazu, die mangelnde Wirkungsmacht linker Prinzipien – und damit das Ausbleiben von Handlungsmacht – nur mit der Vorstellung rationalisieren zu können, dass die Bedingungen für sie nicht günstig seien oder nicht genug für ihre Vermittlung getan worden sei.[24] Ob dies nun in materialistischer oder spontaneistischer Terminologie daherkommt, in beiden Varianten gibt es »unverstandene Momente« der Emanzipation, die einer konstruktiven Bearbeitung der Welt im Wege stehen.[25] Insbesondere das Problem, wie Wirkungs- und Handlungsmacht zusammenhängen, erscheint als black box, die durch den identitären Verschluss – also die Verabsolutierung mikropolitischer Prinzipien – nicht geöffnet werden kann. Es ist dieser Bereich, der in der linken Theorie in die Ecke der Mysterien verbannt wurde und nach Entzauberung verlangt.


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Veröffentlicht am 9.8.2020
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